Wie Psychopharmaka eine psychische Störung verschlechtern und chronifizieren können.
1)Nebenwirkungen während der Einnahme
Psychopharmaka können zu zahlreichen Nebenwirkungen führen (auf das Herz, die Niere, die Leber, die Sexualität, den Stoffwechsel oder das Hormonsystem). Nach Absetzen der Medikation klingen diese Nebenwirkungen meist wieder ab, aber es ist nicht immer so (zum Beispiel bei sexuellen Störungen unter SSRI oder extrapyramidalen Störungen unter Neuroleptika, die auch irreversibel sein können!). Das führt zu einer Verschlechterung und Chronifizierung der Grunderkrankung.
2)Abhängigkeitsrisiko und Entzugssymptomatik
Das höchste Abhängigkeitsrisiko besteht bei Einnahme von Benzodiazepinen (z.B. Tavor) und deren Abkömmlingen (z.B. Zopiclon). Es gibt aber auch ein relevantes Abhängigkeitsrisiko bei Medikamenten gegen Depressionen (bei Allen, auch bei den neuen Antidepressiva wie SSRI, SNRI usw.). Das bedeutet, dass es beim Absetzen von Antidepressiva zu Entzugssymptomen kommen kann wodurch das Medikament nicht oder nur deutlich verzögert wieder abgesetzt werden kann. Das führt zu einer Verschlechterung und Chronifizierung der Grunderkrankung.
3)Eingeschränkte Wahrnehmung von Gefühlen unter Medikation
Unter einer Medikation mit Psychopharmaka (Antidepessiva, Neuroleptika, Stimmungsstabilisierer usw.) wird die Wahrnehmung von Gefühlen schlechter. Bei “negativen” bzw. “unerwünschten” Gefühlen könnte diese Wirkung noch akzeptabel sein, wobei auch negative Gefühle wie Wut und Traurigkeit sehr wichtig sind und uns etwas Wichtiges kommunizieren wollen. Antidepressiva können aber auch die positiven Gefühle wie Freude oder Lust reduzieren. Das führt zu einer Verschlechterung und Chronifizierung der Grunderkrankung.
4)Zielkonflikte zwischen Medikation und Psychotherapie
Psychopharmaka können den Erfolg einer Psychotherapie verhindern, der Patient kann dadurch nicht mehr lernen, mit seinen Problemen umzugehen. Er kann sich damit zufriedengeben, dass bestimmte negative Gefühle weniger spürbar sind, aber auf diese Weise kann er seinen richtigen Weg nicht mehr finden. Außerdem können Psychopharmaka den Patienten denken lassen, dass er alleine nicht schaffen kann, sein Leben neu zu gestalten. Das führt zu einer Verschlechterung und Chronifizierung der Grunderkrankung.
5) Erhöhtes Rückfallrisiko im Vergleich mit Patienten, die keine Psychopharmaka nehmen
Wenn Patienten mit einer Schizophrenie - meistens gegen ärztlichen Rat - nach rund einem Jahr ihre antipsychotischen Medikamente absetzen, nimmt ihre Erkrankung in den folgenden zwanzig Jahren - und damit ihr Leben - vermutlich einen deutlich besseren Verlauf, als wenn sie weiter die verordneten Neuroleptika erhalten. Das haben mehrere Studien gezeigt (siehe zum Beispiel „Chicago-Studie“).
Die Sichtung der bisher zu dieser Frage veröffentlichten Fachliteratur lässt erkennen, dass Dauer und Dosis einer Antipsychotikatherapie mit einer erkennbaren Volumenminderung an Hirnsubstanz und mit einer rezeptorischen Dysregulation in wichtigen Hirnbereichen in Beziehung stehen, damit gehen kognitive Fähigkeiten verloren (die Betroffenen zeigen in entsprechenden Tests eine schlechtere Orientierung, Defizite bei verbalen Aufgaben, Gefühlwahrnehmung, nachlassende Aufmerksamkeit und ein geringeres Abstraktionsvermögen) und steigt auch das Risiko, häufiger eine Wiedererkrankung zu erleiden.
Und bei Antidepressiva ist die Situation nicht besser! Omar Almohammed und sein Team unterschieden in einer Studie eine große Zahl von Patienten mit Depression in zwei Gruppen: Menschen, die infolge der Depression Antidepressiva verschrieben bekommen hatten und Menschen, die keine Antidepressiva verabreicht bekamen. Die Erkenntnis der Studie: Die 57 Prozent der Studienteilnehmer, die Antidepressiva erhielten, hatte keine stärkere Verbesserung ihrer Lebensqualität, als die 43 Prozent, die keine derartigen Medikamente erhielten. Es gab also keine statistisch signifikanten Unterschiede hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität – unabhängig davon, ob die Patientinnen und Patienten ein Antidepressivum eingenommen hatten. Pharmakologische Interventionen können die Depression verfestigen, sie verlangsamt abklingen lassen, die Rückfallgefahr vergrössern und behandlungsresistent machen:
„Führen wir die Behandlung länger als 6-9 Monate fort, können wir Prozesse auslösen, die den anfänglichen akuten Wirkungen von Antidepressiva entgegenwirken (Verlust klinischer Wirkungen). Möglicherweise lösen wir damit einen schlechteren und behandlungsresistenten Krankheitsverlauf aus, was zu Resistenz oder beschleunigten Rückfällen führen kann. Wenn die Medikamentöse Behandlung endet, können diese Prozesse unbehindert vonstattengehen und Entzugserscheinungen und eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber Rückfällen mit sich bringen. Solche Prozesse sind nicht unbedingt reversibel. Je mehr wir Antidepressiva wechseln oder verstärkt einsetzen, desto wahrscheinlicher kommt es zu einer entgegengesetzten Toleranz“ (Fava & Offidani, 2011, S.1600). Das führt zu einer Verschlechterung und Chronifizierung der Grunderkrankung.
Dr.Saverio D‘Errico
Psychiater und Psychotherapeut