F42 Zwangsstörungen

 

THERAPIE DER WAHL: Psychotherapie UND ZWAR DIE KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE

(Medikamentöse Therapie finden Sie weiter unten)

Psychoedukation

Ein wichtiger Baustein in der Therapie der Zwangsstörungen ist zunächst die “Psychoedukation”. Die Betroffenen (und wenn möglich auch ihre Angehörigen) sollten darüber aufgeklärt werden, was ein “Zwang” überhaupt ist, woher die Zwänge kommen und wie Zwänge behandelt werden. Die Psychoedukation ist gerade bei Zwangsstörungen besonders wichtig, da Zwänge häufig sehr schambesetzt sind und die Betroffenen häufig versuchen, ihre Zwänge zu verbergen. Die Psychoedukation soll den Betroffenen auch bei der emotionalen Distanzierung helfen, indem sie lernen, dass die Zwangsimpulse Ausdruck einer psychischen Erkrankung sind (gegen die auch therapeutisch angegangen werden kann) und nicht etwa ein “Zeichen, dass ich verrückt werde...”, wie viele Betroffenen insgeheim befürchten.


Normal Obsessions

Jeder Mensch hat immer wieder auch sich aufdrängende komische (gewalttätige, obszöne, usw.) Gedanken (“Normal Obsessions”). Aus diesen Gedanken entsteht normalerweise keine Zwangstörung, weil sie keine Ängste auslösen und deswegen auch keine Neutralisierung erforderlich machen. Der gesunde Umgang mit diesen Gedanken besteht darin, die Gedanken nicht zu bewerten sondern sie zu ignorieren (“Internale Löschung”).
Die Zwangserkrankten erleben ihre Gedanken jedoch häufig als sehr bedrohlich oder angstauslösend. Diese emotionale (“affektive”) Bewertung der aufdrängenden Gedanken kann dazu führen, dass die Betroffenen in den Druck geraten, ihre Gedanken durch die Zwänge zu “neutralisieren”. Da diese “Neutralisierung” der Gedanken zumindest kurzfristig eine Reduktion der Anspannung bringt, kann sich hieraus ein “Lerneffekt” entwickeln, der schließlich in eine Zwangsstörung münden kann.
Außerdem kann es sein, dass eine normal Obsession mit der Zeit eine besondere Funktion für den Menschen gewinnt (Ablenkung von anderen Themen, Aufmerksamkeit erregen, Befriedigung durch Kontrolle, Selbstzerstörung) und deswegen sich in eine Zwangsstörung befestigt.


Suchteffekt

Da die Betroffenen häufig eine Erleichterung ihrer Angst oder Unruhe erreichen, wenn sie ihren Zwang ausführen, werden Zwänge zunächst oft als eine (unbewusst) hilfreiche Strategien im Umgang mit den Sorgen und Befürchtungen erlebt.
Die Zwänge verlieren aber diese Funktion meistens im Verlauf, wodurch eine Art Suchteffekt entstehen kann. Die Betroffenen müssen dann “immer mehr” desselben Zwanges durchführen, also zum Beispiel immer länger und komplizierter Händewaschen, oder immer kompliziertere neue Zwänge entwickeln. Deswegen ist es wichtig, dass die Betroffenen zwischen den kurzfristigen (oft positiven) und langfristigen (negativen) Konsequenzen der Zwänge unterscheiden lernen.


Zwangsprotokolle

Ein wichtiges Therapieelement sind die Zwangsprotokolle. Die Betroffenen dokumentieren darin die bei ihnen auftretenden Zwänge und die mit diesen verbundenen Befürchtungen und Konsequenzen, um diese im Anschluss mit ihrem Therapeuten / ihrer Therapeutin zu analysieren und alternative Denk- und Verhaltensweisen zu entwickeln.


Expositionen

Nahezu das wichtigste (und für Betroffene und Therapeuten anstrengendste) Behandlungselement in der Therapie der Zwangsstörungen sind die Expositionen. In der Behandlung der Zwänge hat sich dazu die sogenannte Technik der graduierten Exposition mit Reaktionsmanagement etabliert. In dieser versuchen die Betroffenen, sich - zunächst zusammen mit ihren Therapeuten und später auch eigenständig - ihren Zwangsimpulsen “auszusetzen” (zu “exponieren”).
Das Ziel der Expositionen ist, dass die Betroffenen wieder erlernen, wie sie die aufkommenden Gefühle (wie z.B. Angst und Hilflosigkeit), Gedanken (z.B. Sorgen und Schuldvorwürfe) und Körperreaktionen (z.B. Anspannung, Schwindel) auch ohne die Durchführung der Zwänge (über-)leben können.
Vor der Durchführung der Expositionen wird zunächst anhand einer Zwangshierarchie  für die erste Exposition eine Situation im mittleren Anspannungsbereich bei einer Intensität von ca. 40 bis 50% ausgewählt (deswegen “graduierte” Exposition, im Gegensatz zum sogenannten “Flooding”, bei dem mit der schwersten Situation begonnen wird). Vor der Exposition erfragt der Therapeut / die Therapeutin die Grundanspannung des Betroffenen auf einer Skala von 0 bis 100. Die Betroffenen versuchen dann mit Unterstützung durch die Therapeuten, das im Vorfeld erarbeitete neue, zwangsfreie Verhalten in dieser Situation umzusetzen und keine Zwänge oder Rituale einzusetzen
Wichtig ist, dass die Betroffenen in der Exposition ihre Anspannung direkt erleben und nicht nur “aushalten”, denn nur so können sie wieder erlernen, dass sie selbst die Kontrolle über ihre emotionalen, gedanklichen und körperlichen Reaktionen haben (deswegen “Reaktionsmanagement”). Nach Überschreitung des Spannungshöhepunktes klingt die Anspannung häufig von selbst ab. Die Expositionen sollten so oft wiederholt werden, bis alle Zwänge ausreichend überwunden sind.

Entspannungsübungen können Druck abbauen

Sowohl bei Zwangsstörungen als auch bei Tics können neben einer Therapie auch Entspannungsübungen helfen, etwa Yoga oder Autogenes Training. "Häufig verspüren Betroffene ein Vorgefühl", erklärt Münchau. Um dem etwas entgegenzuhalten, kann es helfen, die Faust anzuspannen, sich zu besinnen und seine Energie in andere Bahnen zu lenken. Auch eine Achtsamkeitsübung kann den sich aufbauenden Druck lösen.


Kognitiv-behaviorale Therapie von Zwangsgedanken

In der Therapie der Zwangsgedanken wird zunächst unterschieden, ob die Zwangsgedanken einen so genannten Stimulus-Charakter oder einen Reaktions-Charakter haben.

  • Zwangsgedanken mit Stimulus-Charakter zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei den Betroffenen zu einem Anstieg der Anspannung führen. Häufig haben diese Gedanken einen Warn- oder Befehlscharakter wie z.B. “Ich könnte / muss meinen Angehörigen verletzen!”. In den meisten Fällen sind diese Gedanken für die Betroffenen so angstbesetzt, dass sie “nicht zu Ende gedacht” werden. In der Therapie ist es deswegen wichtig, dass die Betroffenen zusammen mit ihren Therapeuten daran arbeiten, diese aversiven Gedanken auch wirklich bis zum Ende zu denken, damit die Betroffenen (wieder) Erlernen, dass ihr Denken nicht gleichbedeutend mit Handeln ist.


  • Zwangsgedanken mit Reaktionscharakter, auch Mentale Zwangshandlungen genannt, werden demgegenüber von den Betroffenen (bewusst oder unbewusst) zur Reduktion ihrer Anspannung eingesetzt. Diese Gedanken sollen vorrangig andere bedrohliche (Zwangs-)Gedanken bzw. Impulse neutralisieren oder ungeschehen machen. Ziel in der Therapie ist deswegen, dass die Betroffenen erlernen, wie sie mit den “bedrohlichen” Gedanken und Impulsen umgehen können, ohne dass sie die Zwangsgedanken einsetzen müssen. 


 

PHARMAKOLOGISCHE BEHANDLUNG VON ANGSTSTÖRUNGEN

Nur eine lange (mindestens 40 Sitzungen) kognitive Verhaltenspsychotherapie kann eine Zwangsstörung für immer lösen.

Wenn der Patient nun an einer so schweren Zwangsstörung leidet, dass er/sie nicht aus dem Bett aufstehen,  Freude empfinden und am täglichen Leben teilnehmen kann, dass seine/ihre Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Suche nach einer Lösung für das Problem getrübt wird und dass er/sie nicht in der Lage ist, von einer Psychotherapie zu profitieren, dann sind Medikamente eine Therapiemöglichkeit. Was ist nun das beste Medikament? Alle Medikamente bei Zwangsstörungen wirken über ähnliche Wege und sind gleich wirksam. Häufig bei dem Entscheidungsprozess spielt die wichtigste Rolle die Frage, welche Nebenwirkung man vermeiden will.

Bei Einnahme von Medikamenten besteht die Gefahr, dass die PatientInnen denken können, dass ein zufriedenes Leben von denen abhängt und nicht von sich selbst. Darüber hinaus haben Medikamente, selbst die modernsten, verschiedene, teilweise irreversible Nebenwirkungen und Entzugssymptome, wenn man die absetzen will. In manchen Fällen können diese Nebenwirkungen, die auf das Medikament oder dessen Absetzen zurückzuführen sind, Monate oder Jahre anhalten  (z.B. SSRI/SNRI-bedingte sexuelle Dysfunktion) und/oder eine Verschlechterung der Erkrankung vortäuschen.  Mehrere Studien haben gezeigt, dass Antidepressiva bei Angststörungen nicht wirksam sind. Sogar bei gutem Ansprechen besteht der Verdacht, dass die (sowieso geringe) nachgewiesene Wirksamkeit von Antidepressiva nicht an dem Wirkstoff liegt sondern an  Placebo-Wirkung, natürlichem Verlauf der Störung,  usw. 


WARNUNG: AUCH WENN PSYCHOPHARMAKA NOTWENDIG SIND, MÜSSEN ALLE ANSTRENGUNGEN AUF DIE STABILISIERUNG DES PATIENTEN ZIELEN, UM ES  ZU ERMÖGLICHEN, EINE RESOLUTIVE KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE ZU BEGINNEN. 



FALL A: MEDIKAMENTE BEI BEDARF SIND AUSREICHEND

Der Patient leidet nur 1-2 Mal pro Woche unter Zwängen, unabhängig davon, ob sie mit bestimmten Situationen zusammenhängen oder nicht. Der Patient beschließt, bei Bedarf etwas zur Beruhigung einzunehmen, entweder vorher (er bemerkt die fortschreitende Zunahme seines psychovegetativen Zustands/ANSPANNUNG), während (wenn der Anfall sehr stark ist) oder danach (wenn der Anfall lange anhält).

Stufe I (Medikamente ohne Suchtpotential):  bei Menschen unter 65 Jahren PROMETHAZIN 25 mg bis zu 3-mal täglich oder CHLORPROTIXEN (QT-Zeit beachten, EKG erforderlich) 15 mg bis zu 3-mal täglich; bei Menschen über 65 Jahren PIPAMPERON 20 mg bis zu 2-mal täglich.

Wenn die Therapie nicht wirksam ist, wechseln Sie auf bis zu 2-mal täglich  QUETIAPIN 12,5–25 mg.

Stufe II  (Medikamente mit Suchtpotential, da Patient  auf Stufe I nicht anspricht): TAVOR 0,5-1 mg bis zu 4-mal täglich oder gleichwertige Benzodiazepine wie Tavor ohne lange Halbwertszeit (Alprazolam etc.). Faustregel: Bei einem Patienten, der weniger als fünfmal im Monat Benzodiazepine einnimmt, besteht kein Risiko, eine Abhängigkeit davon zu entwickeln.
 

FALL B: EINE GRUNDLEGENDE SCHUTZTHERAPIE IST ERFORDERLICH

Der Patient leidet täglich unter Zwängen.

STUFE 0: Versuchen Sie es mit einem Phytopharmakon (pflanzliches Präparat): Wenn die Anfälle tagsüber auftreten, nehmen Sie morgens Lasea 80 mg, sonst Baldrian abends. Auch eine Kombination aus beiden Mitteln kann sinnvoll sein.

STUFE I, wenn pflanzliche Präparate nach 3-wöchiger Einnahme nicht helfen:
SSRIs mit ähnlichen Dosierungen wie normale Dosierungen bei Depressionen, z.B. Sertralin (bei 50 mg, nicht bei Magen-Darm-Problemen) oder Escitalopram (10 mg, auf QT achten, EKG-Kontrolle notwendig) oder Fluoxetin (ab 20 mg, auf QT achten oder Wechselwirkung mit anderen Arzneimitteln); Bei sexuell aktiven Patienten empfehle ich eher Medikamente, die keine SSRIs oder SNRIs sind, wie Bupropion, Agomelatin, Moclobemid, Mirtazapin (bei ambivalenten Daten zu Trizyklika nicht als erste Wahl empfohlen) .

Schwere Zwangsstörung mit Schlafstörungen--) Mirtazapin, versuchen Sie es zunächst NICHT IN KOMBINATION MIT den oben genannten Medikamenten, sonst IN KOMBINATION;

Mittelschwere Störung mit starken Schlafproblemen und/oder PatientInnen, diezur Gewichtszunahme neigen--) Agomelatin (Leberwerte beachten, notwendig Kontrollen);

Störung bei Patienten mit Leberproblemen ---) Milnacipran (SNRI, kontraindiziert, wenn der Patient Nierenprobleme hat);

STUFE II, d. h. schwere Zwangsstörung, die nicht auf das erste Antidepressivum nach 4 Wochen angesprochen hat (und auch nicht auf eine Psychotherapie)

Sprechen Patienten nach 4 Wochen nicht auf eine Monotherapie an, sollen zunächst Ursachen für diesen Verlauf evaluiert werden. Zu diesen Ursachen gehören insbesondere die Fehldiagnose, eine nicht ausreichende Mitarbeit der Patienten,eine nicht angemessene Dosis und ein zu niedriger Serumspiegel (TDM), somatische und psychische Komorbidität sowie eine ungünstige Komedikation. 


Um eine potenziell wirksame Behandlung nicht grundlos abzubrechen und unnötige, mit erhöhten Nebenwirkungen und Kosten verbundene Therapieintensivierungen zu vermeiden, ist vor einer Änderung der Therapiestrategie die Prüfung möglicher behebbarer Ursachen des Nichtansprechens und damit der Ausschluss einer Pseudotherapieresistenz notwendig.


Werden diese behebbaren Ursachen ausgeschlossen, 



1) Bei Schlafstörungen abends Mirtazapin zum ersten Antidepressivum hinzufügen;

2) Wenn keine Schlafstörungen vorliegen, setzen Sie das Medikament ab und beginnen Sie mit Venlafaxin bis zu hohen Dosen (SNRI, es ist eins der wenigsten Antidepressiva, bei denen es sinnvoll ist, dies zu tun, wenn bei niedrigeren Dosen keine Wirkung auftritt!);

1) + 2) schwere Erkrankung, bei welcher SSRI oder Mirtazapin allein nicht ausreicht: hochdosiertes Venlafaxin + hochdosiertes Mirtazapin;

Bonus--) wenn der Patient zusätzlich narzisstische Züge und/oder generell Grübeleien am Tag oder Abend und/oder Schlafprobleme und/oder hohe psychische Anspannung und/oder Probleme bei der Regulierung seiner Emotionen hat---) Venlafaxin oder Sertralin (nicht Escitalopram oder Fluoxetin, da sie auch die QT-Zeit verlängern) + Quetiapin (Vorsicht, es kann die QT-Zeit verlängern, EKG-Überwachung erforderlich) oder Ariripipazol (fördert nicht den Schlaf wie Quetiapin, verursacht aber keine Gewichtszunahme): Beides sind atypische Antipsychotika ;

STUFE III: Trotz der oben beschriebenen Interventionen bleibt die Störung bestehen:
Fügen Sie Pregabalin 25 bis 100 mg 2-3 mal täglich hinzu (Suchtpotenzial bei Suchtpatienten); oder

Setzen Sie alle anderen Medikamente ab und beginnen Sie die Therapie mit einem Trizyklikum wie Clomipramin in mittlerer/hoher Dosierung (nur bei gesunden Patienten unter 60 Jahren möglich) oder

Setzen Sie alle anderen Medikamente ab, warten Sie 2 Wochen (5, wenn Sie Fluoxetin eingenommen haben, es hat eine längere Halbwertszeit) und beginnen Sie  mit Moclobemid (nicht kombinierbar mit anderen Psychopharmaka).

Bei Zwangsstörungen wird nach einer positiven Reaktion auf das Psychopharmakon eine Einnahme über einen Zeitraum von 6 Monaten bis 1 Jahr empfohlen, auch wenn bereits zuvor eine Besserung erreicht wurde. DANACH ABSETZEN! ANSONSTEN VERSCHLECHTERUNG DER STÖRUNG AUS PSYCHOLOGISCHEN UND PHYSIOLOGISCHEN GRÜNDEN MÖGLICH. 




Quelle: modifiziert aus Benkert, Hippius, Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie 12.Auflage; klinische Erfahrung.